Gladbeck: Das Geiseldrama Review [Netflix]

Richtung: Volker Heise | Spielzeit: 91 Minuten | Jahr: 2022

Im August 1988 fand im deutschen Gladbeck eine der spektakulärsten Geiselnahmen der Welt statt. Diese Show wurde aus der Professionalität der Geiseln oder der Polizei geboren, aber aus der extremen Sensationslust, die rund um die Geiselnahme stattfand. Die Dokumentation Gladbeck: Das Geiseldrama, ausschließlich aus originalem Fernsehmaterial zusammengesetzt, blickt auf diesen Medienzirkus zurück. Das Ergebnis ist ein fesselnder Bericht, der allein durch die Bearbeitung das brutale und unethische Verhalten von Reportern am Tatort kritisch betrachtet.

Es war richtig, dass Journalisten die damalige Situation als „Geiseldrama“ bezeichneten, denn die Geiselnahme dauerte 54 Stunden. Grimmige Nachrichtensprecher im Netz mit den Geiseln, aufgeregte Reporter hinter Abhörbändern und erschöpfte Autoren bestimmen die Szenerie, die Millionen Deutsche weiterhin fasziniert verfolgen. Insofern ist das Drama mit den holländischen Zugentführungen 1975 und 1977 zu vergleichen, die auch im Fernsehen breit ausgestrahlt wurden.

Die erstickende Spannung der Live-Aufnahme, die die Deutschen im Sommer 1988 an der Röhre festhielt, ist eine großartige Möglichkeit, den Dokumentarfilm heraufzubeschwören. Obwohl der Dokumentarfilm 54 Stunden Ereignisse in anderthalb Stunden festhalten muss, sorgt der reibungslose Schnitt dafür, dass das schwankende Energieniveau der Geiselsituation gut dargestellt wird. Denn die Nervosität der Geiselnehmer führt auch dazu, dass sie nach vielen Stunden ohne Schlaf auch nervöser, langsamer und leichter auszulösen sind.

Die Kriminellen reisen zunächst mit nur zwei Bankangestellten als Geiseln durch ganz Deutschland, entführen aber bald einen ganzen Bus voller Passagiere. Polizei und Presse sind ihnen ständig auf den Fersen und sorgen für eine lange Kolonne quer durch Deutschland, sogar für einen kurzen Übertritt über die niederländische Grenze. Während die Geiselnehmer die Polizei heftig beschimpfen und nebenbei erschießen, entpuppt sich einer von ihnen, Hans-Jürgen, als zu gerne, um mit der anwesenden Presse zu sprechen.

Das Ergebnis sind bizarre Interviews mit einem „natürlichen Gauner“, der mit seiner Waffe spielt und vor Millionen von Zuschauern laut redet. Die Presse liebt es und zögert nicht, in den Bus einzusteigen, um die Opfer in ihrer schrecklichen Situation zu filmen und sie zu fragen, was sie denken. Am Ende gelingt es den Journalisten, ein paar Geiseln aus dem Bus zu holen, aber das kann ihr Verhalten kaum rechtfertigen.

Auch wenn die Dokumentation nicht per Voice-Over oder Text kommentiert, schafft sie es dennoch, die Journalisten durch scharfe Schnitte in ein kritisches Licht zu rücken. Polizei und Geiselnehmer verhalten sich unbeholfen, die Dokumentation zeigt die Langeweile und Monotonie einer tagelangen Geiselnahme. Es sind die Medien, die die Show inszenieren und den Geiselnehmern eine Bühne bieten, selbst nachdem eine 15-jährige Geisel in den Kopf geschossen wurde.

Zunächst scheint sich die Dokumentation hauptsächlich auf das Geiseldrama zu konzentrieren, doch nach und nach rückt die Presse immer mehr in den Mittelpunkt. Wir zoomen auf einen der ersten Momente in der Mediengeschichte, als Mörder als Waffe für das nationale Fernsehpublikum eingesetzt wurden, und diskutieren die wichtige Rolle des ethischen Journalismus in der Gesellschaft. Die Frage, ob Journalisten ohne moralischen Kompass über schwerwiegende tödliche Ereignisse berichten dürfen, hat seitdem an Relevanz gewonnen. Jetzt, da sich jeder mit einer Selfie-Kamera Journalist nennen kann, ist es wichtiger denn je, dass wir auf das zurückblicken können, was der Journalismus in der Vergangenheit gebracht hat.

Gladbeck: Das Geiseldrama bietet einen gelungenen Abstieg ins Archiv, fällt aber durch die Auswahl von ausschließlich 80er-Jahre-Material schnell auf das Niveau eines öffentlich-rechtlichen Senders. Man kann den Filmemachern ihren kritischen Ton verzeihen, der den Dokumentarfilm charakterisiert, aber erwarten Sie nicht die spektakulären Animationen, ethischen Dilemmata rund um die Technologie und die progressive Soße, an die sich die Leute in der üblichen Netflix-Dokumentation gewöhnt haben.

Gladbeck: Das Geiseldrama zu sehen bei Netflix

Helfried Beck

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