Als Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Dezember Bundeskanzler wurde, begann er sofort mit der Recherche von Notfallszenarien für den Fall, dass Moskau an der Gasversorgung manipuliert. Immerhin stammte mehr als die Hälfte des von der deutschen Wirtschaft verbrauchten Gases aus Russland. Es gab keine Notfallpläne.
Das Bild des starren kleinen Sozialdemokraten, der ohne Plan B in einem grauen Dezember-Kanzleramt sitzt, verdeutlicht den Bankrott jahrzehntelanger deutscher Politik. Deutschland vertraute Russland blind – schließlich hatte sich Moskau auch im Kalten Krieg als zuverlässiger Energielieferant erwiesen. Und Deutschland war völlig unvorbereitet auf eine russische Aggression – allen Warnungen aus den baltischen Staaten und Polen zum Trotz.
Scholz thematisiert in dieser Woche in einem Artikel das Fehlen eines Plan B Auswärtige Angelegenheiten. Er analysiert die Umbrüche des vergangenen Jahres und beschreibt die Lehren, die Deutschland daraus zieht. Lehren, die auch für den Rest Westeuropas gelten. Dies ist die Fortsetzung seines berühmten Zeitenwende-Rede die er zu Kriegsbeginn im Bundestag abhielt. „Die Welt Zeitenwende“, heißt das Stück in einer tödlichen Kombination aus Englisch und Deutsch. Tatsächlich ist es die Blaupause für eine neue nationale Sicherheitspolitik für Europas größtes und wohlhabendstes Land.
Selten wurden in Europa so viele politische und selbstverständliche Dogmen über Bord geworfen wie in diesem Jahr. Selbst die SPD von Scholz ist ideologisch angeschlagen: eine Partei mit einem Faible für Russland und einem pazifistischen Flügel. Krieg konnte also doch in Europa ausbrechen, wirtschaftliche Interdependenz war keine Versicherung gegen Imperialismus, traditionelle Ostpolitik konnte auf den Müll geworfen werden.
Die Ukraine wird nicht müde, Berlin daran zu erinnern, dass sie einen Fehler gemacht hat. Die Nato-Partner wunderten sich dann über Deutschlands Anpassungsschwierigkeiten. Berlin ist jetzt nach neuen Zahlen, Der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine, wenn man zählt, was tatsächlich geliefert wurde, nicht was für die Zukunft versprochen wurde.
Für ein Land, das so falsch lag, hat die Kanzlerin schon viel gesprochen. Deutschland will aGarant europäischer Sicherheitund ein „Brückenbauer in der Europäischen Union“ werden.
Um dies Wirklichkeit werden zu lassen, bleibt noch viel zu tun. Vorerst ist die Bundeswehr ein Problem, obwohl viel Geld unterwegs ist. Und mit diesen Bridges will es auch nicht klappen: Frankreich war dieses Jahr nicht sehr ruhig, ganz zu schweigen von Polen. Als Berlin Patriot-Raketen zum Schutz Ostpolens anbot, wollte Warschau sie sofort an die Ukraine weitergeben. Als Berlin ein europäisches Projekt zur Anschaffung von Luftverteidigungssystemen startete, beteiligten sich Frankreich und Polen nicht. Deutschland genieße jetzt weniger Vertrauen als 2014, schrieb Analytiker durch die Zeitenwende Krieg auf den Felsen. Nach dem Donbass-Krieg folgten Frankreich und Polen Deutschland.
Scholz gibt zu, dass Deutschland falsch lag, aber viel Buße ist nicht im Spiel. Es sei nach dem Kalten Krieg sehr logisch gewesen, Geschäfte mit Russland zu machen, schreibt er. Das mag 2005 gegolten haben, seit der Eroberung der Krim 2014 nicht mehr. Er steht voll und ganz hinter der Ukraine, nimmt keine Friedenskonzessionen von Russland an und verspricht, die Bundeswehr so zu organisieren, dass sie sich gegen Russland verteidigen kann Aggression und Atomkraft. droht.
Deutschland dreht Russland. Aber hat der Fehler mit Russland auch Folgen für die Beziehungen zu China? Scholz war in diesem Herbst im In- und Ausland heftig kritisiert worden, weil er einer chinesischen Beteiligung an einem Hamburger Hafenterminal zugestimmt hatte.
Dass die Welt vor einem neuen Kalten Krieg zwischen China und den USA stehe, lehnt Scholz ausdrücklich ab. „Ich teile diese Ansicht nicht. Der Aufstieg Chinas rechtfertigt nicht die Isolierung Pekings und die Einschränkung der Zusammenarbeit. Gleichzeitig rechtfertigt Chinas wachsende Macht keine Hegemonie in Asien und anderswo. Scholz sieht eine multipolare Welt, keine bipolare.
In Zeitenwende, schreibt Scholz in der Einleitung, gehe es nicht nur um Russland. Aber was er über China schreibt, deutet eher auf Kontinuität als auf Wandel hin. Das passt jedenfalls nicht zum amerikanischen Hardline-Ansatz. Viele Dogmen sind in diesem Jahr zu weit gegangen, doch wenn es um China geht, wird aus Scholz‘ Zeitenwende Plus-Also.
Geopolitischer Redakteur Michel Kerres schreibt hier alle zwei Wochen über die sich verändernde Weltordnung.
Eine Version dieses Artikels erschien auch in der Zeitung vom 9. Dezember 2022
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