Warum es kein Deutsch gibt

Was ist ein Deutscher? Die offensichtlichste Antwort ist: jemand aus Deutschland. Aber die eigentliche Antwort auf die Frage, was typisch deutsch oder „Deutschtum“ ist, ist etwas komplizierter.

Ich würde mich auf jeden Fall als Deutsch bezeichnen. Ich wurde 1998 im damals mehr oder weniger wiedervereinigten Nachbarland Niederlande geboren.

Außerdem habe ich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens in einem kleinen deutschen Dorf gelebt, ich habe einen deutschen Pass, und mein Nachname ist buchstäblich ein deutsches Adjektiv. Trotz dieses Eintauchens in die deutsche Kultur habe ich immer noch keine klare Antwort auf die Frage, was das Wesen des Deutschseins ist.

Was haben die mehr als achtzig Millionen Menschen, die derzeit in der Bundesrepublik Deutschland leben, wirklich gemeinsam? Welches Alleinstellungsmerkmal verbindet Menschen aus Ost und West? Oder Nord und Süd? Berlin und der Rest des Landes? Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Kultur des Birkenstock-Landes der Socken, des Sauerteigbrots und der unverständlichen Grammatik eintauchen.

nicht deutsch

Vielleicht ist der beste Weg, das Wesen des Deutschtums zu verstehen, zunächst zu bestimmen, was NICHT Deutsch ist. Aber auch das ist manchmal schwerer als man denkt. Nehmen Sie zum Beispiel die erwähnten Birkenstocks, Sauerteigbrote und unverständliche Grammatik: Diese Dinge erscheinen auf den ersten Blick typisch deutsch, aber sobald wir ein wenig tiefer graben, stellen sie sich heraus, dass sie überhaupt nicht deutsch sind.

„Sauerteigbrot wurde schon vor sechstausend Jahren von den Ägyptern gegessen“

Birkenstock beispielsweise ist seit 2021 im Besitz einer amerikanischen Investmentgesellschaft, Sauerteigbrot wurde bereits vor mehr als sechstausend Jahren von Ägyptern und in anderen deutschsprachigen Ländern, wie der Schweiz, Österreich, Belgien und Luxemburg, oft konsumiert sich über unverständliche Grammatik beschweren. Was bleibt also, wenn sich überdeutsche Dinge als gar nicht deutsch herausstellen?

Preußische Tugenden

Birkenstock. Foto: Johannes Fiebig

Beginnen wir am Anfang. Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus sechzehn Bundesländern. Nur dreizehn von ihnen sind tatsächlich Staaten; es gibt drei Stadtstaaten, nämlich: Berlin, Hamburg und – für viele die Überraschung der Liste – Bremen.

Die westlichen Bundesländer sind im Allgemeinen wohlhabender als die östlichen – mit Ausnahme des Saarlandes, das einfach Pech hat. Der Süden ist der reichste, vor allem dank der deutschen Automobilindustrie. Vor allem in Bayern wird es gerne zur Schau gestellt. Das geht sogar so weit, dass sie eine eigene nationale Partei haben und manchmal sogar mit der Abspaltung von Deutschland drohen.

Die meisten Ausländer denken bei Deutschland an den Süden, vor allem an Bayern, inklusive Lederhose, Dirndl und Oktoberfest. Und natürlich die typisch preußischen Tugenden wie Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Ordnung, obwohl dies meist das Land Brandenburg im Berliner Umland ist, am anderen Ende des Landes.

Statistisch gesehen leben die meisten Deutschen jedoch in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, aus dem auch viele Studierende der Radboud-Hochschule stammen. Historisch gesehen haben einige der größten Deutschen, darunter Nietzsche, Bach, Luther, Schiller und Goethe, alle in Thüringen gearbeitet. Thüringen, wo ist das, höre ich Sie fragen. Es ist in Ordnung, wenn Sie es nicht wissen, denn auch die meisten Deutschen vergessen diesen Zustand regelmäßig. Und ich muss es wissen, ich bin dort geboren und aufgewachsen.

religiöse Identität

Die Deutschen im Westen des Landes sind generell religiöser als ihre Landsleute in den östlichen Bundesländern. Der Atheismus im Osten ist hauptsächlich das Ergebnis von vierzig Jahren Sozialismus. Betrachtet man das christliche Spektrum, so überwiegt im Westen der Katholizismus und im Osten der Protestantismus. 42% der Deutschen fühlen sich dem Christentum überhaupt nicht verbunden. Es fällt daher auf, dass die christliche Partei von Angela Merkel das Land seit sechzehn Jahren regiert.

„Es gehört zur religiösen Identität Deutschlands, dass wir anderer Meinung sind“

Wirft das Obige nur weitere Fragen zur religiösen Identität Deutschlands auf? Wir sind also auf dem richtigen Weg. Die vielen Fragen nach der christlichen Identität waren genau der Grund, warum Martin Luther einen ganzen Brief schrieb. Er weigert sich, sich dafür bei den Behörden zu entschuldigen und versteckt sich dann elf Monate lang in einem Schloss, um die Bibel zu übersetzen und damit den Grundstein für den Protestantismus zu legen.

Es gehört zur religiösen Identität Deutschlands, dass wir uns über diese Identität nicht einig sind. Daher werden in Ost und West unterschiedliche religiöse Feiertage gefeiert. Überall gleich ist jedoch, dass die meisten Deutschen nur zu (a) Hochzeiten, (b) Beerdigungen und (c) dem alljährlichen Weihnachtsfest in die Kirche gehen, wo – nach jahrelanger Tradition – örtliche Grundschulkinder die Geburt von beschließen Jesus.

im Dialekt verloren

„Warte“, höre ich einige von euch sagen. „Sie haben gerade davon gesprochen, die Bibel zu übersetzen. Ist das nicht der Ursprung des geschriebenen Deutsch? In Kraft. Die meisten Deutschen sprechen Deutsch und sind sich über die Schreibweise einig, zumindest bis der Duden (die offizielle deutsche Rechtschreibhilfe) beschloss, die Schreibweise wieder zu ändern.

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Foto: Johannes Fiebig

Natürlich ist nicht jeder, der Deutsch spricht, per Definition Deutscher, aber das lassen wir der Einfachheit halber mal beiseite. Die deutsche Sprache ist definitiv etwas, was die Deutschen gemeinsam haben, vorausgesetzt, wir können uns verstehen. „Solange ihr euch verstehen könnt?“ Ja, Sie haben richtig gehört: Willkommen in der Welt der deutschen Dialekte.

Im Norden ist Deutsch dem Niederländischen überraschend ähnlich, aber je weiter man nach Süden kommt, desto schwieriger wird es, jemanden zu verstehen. Meine Freunde sagen zum Beispiel, dass ich sächseln gehe, sobald ich emotional werde. Wir verzeihen ihnen, dass sie Sächsisch mit meinem Thüringischen verwechseln, denn wie gesagt, Thüringen wird immer vergessen.

Gemeinsame NS-Vergangenheit

Bisher haben wir gesehen, dass die meisten Dinge, die deutsch sind, überhaupt nicht wirklich deutsch sind. In Religion, Politik und Sprache herrscht kaum Einigkeit, selbst über deutsche Klischees gehen die Meinungen weit auseinander. Gibt es also nichts mehr, was das Wesen der Geschwisterlichkeit charakterisiert? Ja, es ist höchste Zeit, den Elefanten im Raum zu spielen: moderne deutsche Geschichte.

Man könnte sagen, dass ihre gemeinsame Geschichte die Menschen in einem Land wirklich verbindet. Im Fall der Deutschen umfasst diese gemeinsame Geschichte einige der abscheulichsten Taten seit Menschengedenken. Lassen Sie mich zunächst sagen, dass die meisten Deutschen diesen Teil ihrer Geschichte sehr ernst nehmen.

„Die Taten unserer Vorfahren während des Holocaust bestimmen nicht die Definition von Geschwistern“

Gleichzeitig kann eine gemeinsame NS-Vergangenheit und die damit verbundene historische Verantwortung auch nicht das Wesen der Geschwisterlichkeit sein. Der Zweite Weltkrieg ist natürlich ein entscheidender Moment in der deutschen Geschichte, aber das Handeln der Vorfahren während des Holocaust ist nicht entscheidend für die Definition des Deutschtums. Wenn dem so wäre, hätten wir all die Leute ignorieren sollen, die die Nazis nicht wollten, dass Sie Deutscher sind.

Dann würden wir die Geschichten von deutschen Juden, afrikanischen Deutschen und Farbigen ignorieren. Wir würden auch Deutschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, schwulen, lesbischen, bisexuellen, nicht-binären und Transgender-Deutschen sowie sozialistischen und kommunistischen Deutschen Unrecht tun. Mit anderen Worten: Viele ehemalige und gegenwärtige Deutsche, die einige Faschisten vor achtzig Jahren entschieden, entsprachen nicht der Definition dessen, was ein Deutscher sein sollte.

Und dann gibt es noch unzählige Deutsche, deren Familien Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gezogen sind. Sind sie weniger deutsch, weil ihre Großeltern und Urgroßeltern diese schwierige Zeit der deutschen Geschichte nicht miterlebt haben? Das glaub ich nicht.

Typisch deutsch

Bedeutet das, dass Deutsch nicht existiert? Schließlich haben wir es immer noch nicht geschafft, Deutschland mit all seinen Widersprüchen eindeutig zu definieren. Gleichzeitig hat Deutschland etwas, das mir das Gefühl gibt, nach Hause zu kommen, sobald ich die Grenze überquere und nach Hause fahre.

Typisch deutsch, aber unter Deutschen äußerst umstritten: der Thermomix, eine vollautomatische Küchenmaschine. Foto: Johannes Fiebig

Vielleicht gibt es doch etwas urdeutsches, eine Art deutsche Universalkultur, ein Deutschsein, das sich nicht mit den gängigen Kriterien einer Kultur interpretieren lässt. Aber was ist diese universelle Bedeutung des Deutschtums?

Um das herauszufinden, werfen Sie einen Blick auf eines der vielen deutschen Regierungsgebäude, die seit Anfang der 2000er Jahre nicht renoviert wurden, oder versuchen Sie, einen Termin in einem deutschen Bürgeramt zu vereinbaren, das nicht geöffnet ist. nur für zwei Stunden, dann nur jeden dritten Mittwoch nach Vollmond.

„Die deutsche Bürokratie ist wirklich einzigartig“

Sie können sich auch an den deutschen CBR, das deutsche DUO oder andere Leitungsgremien dieses riesigen Landes wenden. Sie wissen also, wie es sich anfühlt, wenn Ihnen im jahr 2024 jemand mit ernster Miene mitteilt, dass Sie per Fax mit einer deutschen Behörde kommunizieren können.

Erst als man dem Monster namens deutsche Bürokratie begegnete und sich irgendwann zu fragen begann, ob man zum Töten fähig wäre, erst dann erlebte man die Essenz des Deutschtums. Unabhängig von Religion, Dialekt, politischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Hautfarbe oder Geburtsland ist der Wahnsinn der deutschen Bürokratie so deutsch, dass er meiner Meinung nach wirklich einzigartig ist. Und das verbindet vielleicht die Deutschen der Vergangenheit, der Gegenwart und wahrscheinlich der Zukunft.

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Adelbert Eichel

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