Eine neue Annäherung an die koloniale Vergangenheit

Historische Bilder des ehemaligen Königreichs Benin sind im vergangenen Jahrzehnt zu einem der bekanntesten Symbole der europäischen Debatte um die Restitution des kolonialen Erbes geworden. In Europa gibt es etwa fünftausend dieser Statuen, Deutschland ist nun das erste Land, das so viele dieser Objekte zurückgibt. Die Beobachtung ist eindeutig: Mit der Rückgabe des nigerianischen Kulturerbes, so Baerbock (die Grünen), habe ein neuer Umgang mit der kolonialen Vergangenheit begonnen. Deutschland erkenne laut dem Minister seine eigene „dunkle Rolle“ zwischen 1888 und 1918 im europäischen Kolonialismus und „das enorme Leid, das er in Teilen Afrikas angerichtet hat“.

Doch bei so vielen netten Worten vergisst man fast, dass die deutsche politische Position zur Rückgabe der beninischen Bronzen seit Jahrzehnten dagegen ist. Die Bilder galten nicht als Raubkunst aus der Kolonialzeit. Die Briten hatten die Statuen aus Afrika gestohlen, aber die Deutschen hatten sie rechtmäßig von ihnen gekauft. Und wo bewahrt man sie besser auf als in einem deutschen Museum?

Eine der meistgenannten Erklärungen, warum sich der Umgang der Deutschen mit diesen Objekten in kurzer Zeit so stark verändert hat, ist die Ansiedlung des neuen Ethnographischen Museums im Zentrum Berlins seit 2020. Das Museum ist Teil des Humboldt Forums, das befindet sich im rekonstruierten Berliner Stadtschloss. Der Wiederaufbau dieser ehemaligen Kaiserpfalz war schon immer sehr umstritten, aber mit dem Projekt Humboldt Forum im Inneren schien 2002 eine passende politische Botschaft gefunden worden zu sein: Mit farbenfrohen Objekten aus Afrika, Asien und Ozeanien sollte dieses Museum „zum Dialog“ stehen der Kulturen“ im Zentrum der Hauptstadt. Er sollte der Welt die deutsche Weltoffenheit des 21. Jahrhunderts zeigen, ein Gegenstück zur deutschen Vergangenheit der beiden Weltkriege und des Holocaust im 20. Jahrhundert.

Als Katalysator erwies sich die bevorstehende Eröffnung des Humboldt Forums

Erst als der Bau des Humboldt Forums 2017 kurz vor der Fertigstellung stand, fiel plötzlich der Schatten der kolonialen Vergangenheit auf dieses Prestigeprojekt. Obwohl die Debatte über die relativ kurze koloniale Vergangenheit in der deutschen Wissenschaftswelt seit zwei Jahrzehnten geführt wird, hat es keine breite öffentliche Debatte darüber gegeben. Als Katalysator erwies sich die bevorstehende Eröffnung des Humboldt Forums. Unter dem Druck einer äußerst kritischen öffentlichen Debatte und mit dem Eintritt von Hartmut Dorgerloh als neuem Direktor im Jahr 2019 ist die „Aufarbeitung“ der kolonialen Vergangenheit wieder in den Vordergrund gerückt. In dieser schwierigen Situation könne sich Deutschland moralische Zweideutigkeiten nicht leisten; der letzte Kaiser Wilhelm II. war der letzte Einwohner, aber er war auch verantwortlich für den kolonialen Völkermord an den Herero und Nama in Afrika.

Die Eröffnung des Humboldt Forums ist jedoch nicht die einzige Ursache für den raschen Kurswechsel in Deutschland. Politische Diskussionen über den Kolonialismus seien nicht zu trennen vom Einfluss von „Migration und Globalisierung“ auf die deutsche Gesellschaft, argumentiert der deutsche Japanologe Sebastian Conrad im Merkur. Die deutsche Erinnerungskultur ist in Bewegung geraten, weil sich auch die Gesellschaft als Ganzes bewegt. Das Land ist in kurzer Zeit multikultureller geworden als noch vor zehn Jahren.

„Neue Bevölkerungsgruppen fordern Aufmerksamkeit für andere Teile der Geschichte“

Neue Bevölkerungsgruppen verlangen Aufmerksamkeit für andere Teile der Geschichte als die der deutschen „Mehrheit“, sagt Conrad. Der Einfluss der vielen stürmischen internationalen Debatten um diese multikulturelle Gesellschaft, etwa in den USA um die Black-Lives-Matter-Bewegung, scheint ein zweiter entscheidender Faktor für den raschen Umschwung in der deutschen öffentlichen Meinung zu sein.

Der Umgang mit Bildern aus Benin im Humboldt Forum ist das deutlichste Beispiel dafür, wie schnell diese gesellschaftlichen Veränderungen zu einem neuen politischen Kurs führten: 2019 wurden die Bilder noch stolz als Vorschau auf das neue Völkerkundemuseum ausgestellt Forum 2020 eröffnet, fehlten sie, weil die Eigentumsfrage als zu vage angesehen wurde.

Die bisherige Merkel-Regierung mit einer christdemokratischen Kulturstaatsministerin hatte 2021 angeboten, nur einen Teil der 1100 Statuen zurückzugeben, aber mit dem Einzug der neuen Scholz-Regierung mit der Grünen-Politikerin Claudia Roth als Kulturstaatsministerin und Baerbock als Außenminister wurde 2022 beschlossen, sie alle zu entlassen. Die Statuen gehören jetzt Nigeria, das sie nach Berlin ausgeliehen hat.

Diese neue Debatte um die Erinnerungskultur heißt bereits „Historikerstreit 2.0“

In diesem Sinne wird die deutsche politische Entscheidungsfindung im jahr 2024 parallel zu der anderer westlicher Länder verlaufen, einschließlich der Niederlande, wo die koloniale Vergangenheit ebenfalls erst jetzt in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt ist. Aber Deutschland unterscheidet sich auch grundlegend von anderen Ländern. Das Land hat in den vergangenen Jahrzehnten alles getan, um der Verantwortung für den Holocaust Raum zu geben. Mit der neuen Fokussierung auf die koloniale Vergangenheit stellt sich nun die Frage, in welchem ​​Verhältnis diese „neue“ Verschuldung zur „alten“ deutschen Verschuldung steht.

Diese neue erinnerungskulturelle Debatte entwickelt sich bereits zum ‚Historikerstreit 2.0‚ Ernennung. Der Begriff bezieht sich auf die kontroverse Diskussion um die Bedeutung des Holocaust in der deutschen Geschichte Mitte der 1980er Jahre. Aber das Ziel linker Gelehrter ist heute nicht wie damals, dass dem Holocaust zu wenig Beachtung geschenkt wird. Heute schreibt der australische Völkermordforscher Dirk Moses, die deutsche Gesellschaft halte zu sehr an der „pünktlichen“ Geschichte des Holocaust fest, was das Gedenken an Kolonialverbrechen erschwere. Nur wenn das Land erkenne, dass sich der deutsche Rassismus nicht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beschränke, so der Afrika-Experte Jürgen Zimmermann, könne der zeitgenössische Rassismus nur sinnvoll bekämpft werden.

Die Unerbittlichkeit des Zweiten Historikerstreit auch Jürgen Habermas, 92, einer der Protagonisten des Ersten Historikerstreit, darüber reden. Nein, sagt Habermas, der Holocaust werde seine zentrale Stellung in der deutschen Erinnerungskultur nicht verlieren, aber die Erinnerung an die „bis vor kurzem verdrängte“ koloniale Vergangenheit sei eine „wichtige Ergänzung“ der deutschen Erinnerungskultur. Politiker nahmen Habermas‘ Gemeinsamkeit dankbar an. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ging in seiner Eröffnungsrede im Völkerkundemuseum ausdrücklich auf den Vorschlag zur „Erweiterung“ der Erinnerungskultur ein. Die Erinnerung an den Holocaust sei „Teil unserer Identität“, sagte Steinmeier, schließe aber eine „empathische und bewusste Erinnerung an anderes Unrecht, anderes Leid“ nicht aus.

Wie dieser neue Aspekt deutscher Erinnerungskultur aussehen wird, zeigt das Ethnographische Museum in Berlin in den kommenden Jahren. Fest steht jedenfalls: Deutschland tut in der ehemaligen Kaiserpfalz alles, um sich der Welt als fortschrittlichstes Land angesichts der kolonialen Vergangenheit zu zeigen.

Adelbert Eichel

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