Das habe ich erst kürzlich richtig gespürt, als ich einen niederländischen Kollegen in Mitte besuchte, am Rande des Prenzlauer Bergs, einem der beliebtesten Viertel der Stadt. Es handelt sich um einen ehemaligen Bezirk der DDR, der nach der Wende komplett neu bebaut wurde. Früher war dieser Teil der Stadt wegen seiner alternativen Atmosphäre für mich die Hauptattraktion Berlins, aber in den letzten Jahren bin ich kaum noch dort gewesen. Der Einfluss einiger „Ur-Berliner“ in meinem Leben war zu groß geworden und sie betrachteten diese Gegend nicht mehr als „authentisches“ Berlin. Schließlich handelte es sich bei den neuen Bewohnern in der Regel nicht um Ost- oder Westberliner, sondern um Neuankömmlinge aus den Niederlanden, Italien und – „noch schlimmer“ – aus dem wohlhabenden Süden Deutschlands. Häuser wurden renoviert, H&M eröffnet und ein neues „gentrifiziertes“ Stadtzentrum entstand.
Doch als ich nach langer Zeit noch einmal durch diesen Bereich rund um die Kulturbrauerei spazierte, war ich immer noch erstaunt über die freudige Abwechslung, die hier noch zu spüren ist. Ja, es ist teilweise nur ein Spiel für Touristen, aber es gibt auch eine typische Gruppe von Bewohnern, die sich damit einen Namen machen wollen. Sie haben jetzt genug Geld, um ein Urban Arrow-Lastenfahrrad zu kaufen, aber sie wählen idealistischerweise grün. Es sind diese bürgerlich-grünen linken Bohemiens, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, das Bild der Stadt zu bestimmen. Doch nach den Kommunalwahlen Anfang 2023 erweist sich diese Gruppe überhaupt nicht als die einflussreichste in der Stadt. Trotz aller Berliner Alternativkultur ist die eher kleinbürgerliche CDU zur größten Partei geworden – und die Stadt hat Kai Wegner als neuen Bürgermeister, einen Mann, der mit einem progressiven Bild von Berlin nicht einverstanden ist.
Als Berliner Zeitungen im Februar Grafiken veröffentlichten, die diesen überraschenden Wahlsieg illustrierten, wurde die neue ideologische Dichotomie plötzlich deutlicher. Berlin scheint ein Herz grüner Wähler zu haben, aber darum herum, in den Außenbezirken, scheint sich eine schwarze Grenze gebildet zu haben, die Farbe der CDU (siehe Foto). Das alte West-Berlin scheint sich mühelos in das alte Ost-Berlin einzufügen, wobei die wohlhabenden Stadtteile von Zehlendorf genauso viel zu den Gewinnen der CDU beitragen wie die Plattenbau-Viertel im Nordosten.
Merlin Schoonenboom verbindet in seiner monatlichen Kolumne persönliche Erfahrungen mit breiteren gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland
Ich selbst bin aufgrund dieser neuen Dichotomie fast täglich unterwegs. Ich fahre mit der S-Bahn ganz im Südwesten in mein Büro in Kreuzberg und reise von Schwarz nach Grün, von Konservativ nach Progressiv. Ich merke sofort den Unterschied, in Kreuzberg feiert man das Großstadtchaos, Pop-up-Radwege sind geplant und Multikulturalität wird meist als „Bereicherung“ gesehen. Im Südwesten der Stadt hingegen wünschen sich die Menschen Ordnung, neue Autobahnen und sehnen sich kulturell nach der Klarheit der Fünfzigerjahre.
Natürlich ist die alte Ost-West-Dichotomie in Deutschland durchaus noch politisch spürbar – in östlichen Bundesländern wie Sachsen beispielsweise ist die rechtspopulistische AfD deutlich größer als anderswo im Land. Aber letztendlich geht es auch auf dieser föderalen Ebene vor allem um diese neue Dichotomie, die oft beschriebene ideologische Kluft zwischen Globalisten und Nationalen, zwischen Kosmopoliten und „Provinzialen“. In Berlin stellt sich heraus, dass nicht die AfD, sondern die CDU diese letzte Gruppe anspricht.
Die neue ideologische Kluft ist zweifellos eine große neue Herausforderung für die deutsche Hauptstadt. Nicht umsonst beeilte sich der neue Bürgermeister zu sagen, er wolle die Stadt „versöhnen“. Aber wird es funktionieren? Für seine Kommunalverwaltung verbündete er sich in den nächsten Jahren mit der pragmatischen SPD; Zu viel ideologisches Experimentieren gehört für ihn lieber nicht dazu.
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