Manchmal, wenn Sie versuchen, die Welt von Den Haag aus zu betrachten, ist es unmöglich, sich dem Gefühl zu entziehen, dass Sie sich tief in Platos Höhle befinden – Sie wissen, dass die Schatten an der Wand nicht die Realität sind, sondern Wayangs Spielvorschlag. Seit Putins zweiter Invasion in der Ukraine haben sich die Dinge geändert. Auch Den Haag erlebt seine Mini-Zeitenwende, aber anders als Berlin: ungesagt, undiskutiert und ohne jede Spur von Selbstreflexion.
Ausländische Debatten haben in den Niederlanden immer eine gewisse Abstraktion. Für Ausländer schwer verständlich, denke ich. Aber dies ist ein Land, das sich im Handumdrehen von der spätkolonialen Bevormundung über Völker entfernt hat, die stark ideologischer Entwicklungshilfe ausgesetzt waren – ohne die Ironie selbst zu sehen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges, als sich die Niederlande an Militäroperationen beteiligten, um vorübergehend Stabilität zu schaffen oder Chaos zu reduzieren, sind auch politische Debatten zu diesem Thema ohne kulturelle Übersetzung schwer zu verstehen. In solchen Zeiten werden ganze Kontinente und endlose (oft trockene) Landmassen in diese Höhle von Den Haag gepfercht, nur um nach vielen Poldern und zur allgemeinen Freude aller Beteiligten als blühende Oasen der Chancengleichheit für alle aufzutauchen.
Wie dem auch sei, diese Debatten drehten sich immer um die Nachfolge Wahl Krieg erwähnt wird, keine Kriege aus Notwendigkeit. Also konnte man Kriege wählen, nicht notwendige Kriege. Für ein Land wie die Niederlande, das für seine Sicherheit stark auf andere Länder angewiesen ist, ist diese Unterscheidung nicht so klar wie für größere Länder. Die Teilnahme am „Krieg der Wahl“ eines großen Verbündeten kann für die Niederlande eine diplomatische Notwendigkeit sein. Dahinter steckt eine Logik, die sogar vertretbar ist, aber in der Höhle von Den Haag versteckt sich diese harte Realität lieber hinter idealistischen Zielen.
Nennen Sie es lokale Folklore: Wir sind weder offen über die Motivation noch realistisch über die Ziele unserer Militäroperationen, aber wir sind ausnahmslos moralisch empört über ihre Auswirkungen. Die Welt mag ein Chaos sein, das Haager Glaubensbekenntnis ist noch in Ordnung.
Ohnehin, es war einmal. Die große Invasion von 24/2 hat auch diese Folklore von Den Haag erschüttert, zumindest vorerst. Putin hat eine Zündschnur in ein Pulverfass in der Nähe unserer Höhle gesteckt und durch diese Explosion sind wir nun direkter Sonneneinstrahlung ausgesetzt und es gibt weniger Platz für das traditionelle Wayang-Spiel.
Einige Beispiele. 2019 und 2020 wiederholte das Repräsentantenhaus, auch von den Koalitionsparteien, die Forderung nach einem Waffenembargo gegen die Türkei nach Erdogans fehlgeleiteten militärischen Abenteuern. Zuerst gegen die Kurden in Syrien, später als Stützpfeiler Aserbaidschans gegen Armenien. Die Empörung war verständlich, auch die europäischen Waffenlieferungen wurden reduziert, aber das Embargo gegen einen Nato-Verbündeten kam natürlich nicht zustande.
Nicht solange das Kalkül bleibt, dass die Türkei innerhalb des Bündnisses weniger gefährlich ist als außerhalb. Jetzt frustriert Erdogan seine Verbündeten mit seiner Erpressungspolitik gegen Finnland und Schweden. Aber seit dem 24.2 nimmt die Türkei eine Sonderstellung ein (aufgrund des Getreideabkommens, aber auch ihrer Lage), sodass alle still auf die Wahl warten.
Ein anderes Beispiel. Die Mitte-Rechts-Parteien VVD und CDA beanspruchen immer noch ihren „Realismus“. Aber das spiegelt sich nicht in ihren jahrelangen Verteidigungsausgaben, ihrer Gaspolitik oder ihrer blinden Unterstützung für Nord Stream-Projekte wider, die heute als einer der größten strategischen Fehler Europas in den letzten Jahrzehnten angesehen werden. Inzwischen wurde Nord Stream zunächst politisch lahmgelegt und dann gesprengt.
Endlich: Atomwaffen. SP, GroenLinks und die PvdA wollten Ende 2019 die 20 amerikanischen Sprengköpfe in den Niederlanden loswerden, wenn Russland auch 20 abwirft. Russische Atomvertragsverletzungen wurden ebenso ignoriert wie die Zahlen: Moskau hat etwa 2.000 davon.“ substrategische“ Atomwaffen, NATO 100. Jetzt, wo Putin mit Atomwaffen droht, wurde die Bedeutung nuklearer Abschreckung schnell wiederentdeckt. Auch von D66, die 2019 der Meinung waren, dass die F35 keine Atomwaffenaufgabe erhalten sollte.
In einigen wichtigen Punkten – Verteidigungsausgaben, nukleare Abschreckung, Gas und Nord Stream – ähnelt die niederländische Methode der deutschen. Doch wo diese Kursänderungen in Deutschland hitzige Kontroversen ausgelöst haben, ein gequälter Blick in den Spiegel, segelt das Boot aus Den Haag ruhig auf der Welle des Augenblicks. Den Haag betreibt offenbar keine Selbstreflexion, weder innerhalb noch außerhalb der Höhle.
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