Es muss das beste deutschsprachige Theater der Saison sein, die Auswahl des Theatertreffens in Berlin. Oder offiziell: das „bemerkenswerteste Theater“. Doch die Medea am Schauspiel Frankfurt, die letzte Woche die fünfzigste Ausgabe des Festivals eröffnete, ist weder gut noch „bemerkenswert“. Eher langsam, distanziert und skizzenhaft.
In der in Deutschland gefeierten Show unter der Regie von Michael Thalheimer spielt Constanze Becker die Medea, die über eine Stunde lang auf einem Felsvorsprung im hintersten vorstellbaren Backstage-Bereich steht; statisch und unzugänglich. Marc Oliver Schulze in der Rolle des Jason und Josefin Platt in der der alten Amme zeichnen hysterische Karikaturen ihrer Figuren. Das Drama wird kein einziges Mal emotional. Bis auf ein einfaches und gruseliges Video am Ende, das den grausamen Mord an Kindern ankündigt.
In diesem zweiminütigen Fragment zeigt Thalheimer, dass er sein Publikum durchaus fesseln kann, dass er sich jedoch bewusst dagegen entscheidet – aus Seriosität oder aus künstlerischem oder intellektuellem Dogma.
Die Festivaljury, bestehend aus sechs renommierten deutschen Theaterkritikern, entschied sich jedoch für die Wahl Medea einstimmig. Außerdem wählte sie acht große Produktionen der deutschen Staatstheater Leipzig, Frankfurt, Hamburg, München, Köln und Berlin aus; eine Großproduktion des Schauspielhauses Zürich und eine experimentelle Aufführung des Flat Floor Circuit des Franzosen Jérôme Bel. Dass das etwas über den Zustand des deutschen Theaters aussagt, geht vielleicht zu weit, sagt aber viel über die Ausrichtung des Theatertreffens aus. So frisch und abwechslungsreich sich das erneuerte Festival im vergangenen Jahr zeigte – die erste Ausgabe unter der Leitung von Yvonne Büdenhölzer (35), so bescheiden erscheint heute die Auswahl.
Auch bei Jeder bewegt sich für sich alleinnach dem Roman von Hans Fallada unter der Regie des Flamen Luk Perceval am Thalia-Theater in Hamburg ist alles Formsache und Ernsthaftigkeit. Perceval hat Falladas bereits erfolgreich produziert Kleiner Mann, war sie eine Nonne?der 2010 in das Festival aufgenommen wurde, und wagt sich nun an seinen Langform-Nazi-Roman von 1947 heran.
Mit zehn Schauspielern präsentiert Perceval das 650 Seiten starke Buch in einer über vier Stunden langen, großartigen Darbietung, die durchaus als Leistung bezeichnet werden kann. Aber es bleibt nüchternes Erzähltheater; Die Charaktere sprechen über sich selbst oder drücken einen inneren Monolog aus, der für das Publikum bestimmt ist. Es gibt praktisch keine Interaktion zwischen den Spielern und praktisch keinen Dialog. Die Relevanz liegt im Gewicht des Themas und der gnadenlosen Schönheit des Romans; Die Spannung entsteht aus der Neugier auf das Ergebnis. Glücklicherweise lässt Percival für einen Moment die Zügel los, in einer bedrückenden, fast filmischen Konfrontation zwischen dem Gestapo-Kommandanten Escherich und dem Kleinkriminellen Kluge.
Genau das Gegenteil von Percevals Ernsthaftigkeit liegt Murmel Murmel (1974) von Dieter Roth, Regie Herbert Fritsch an der Volksbühne Berlin. Roth hat ein als unspielbar geltendes Stück geschrieben, es handelt sich vielmehr um eine Gesangskomposition, deren Text nur diese beiden Wörter enthält. Fritsch gelingt dies, genau wie seine Auswahl im letzten Jahr Dieser Panikflugüberlegene Burleske von. Verrückte Musik ist ansteckend; Genial ist das farbenfrohe Leinwanddekor, das sich zu verkleinern und auszudehnen scheint.
Vor allem aber ist es eine Gruppe von Spielern. Volksbühnenschauspieler, die als Avantgarde gelten, dürfen sich krassen Absurditäten hingeben. Sie murmeln, murmeln, knurren, grunzen, singen oder rufen mit freudiger Hingabe das bedeutungslose „Murmel Murmel“. Es ist nicht nur sehr witzig, sondern auch sehr intelligent. Nicht? Versuchen Sie dann, sechsmal schnell hintereinander „Murmel, Murmel“ zu sagen. Wird es funktionieren? Probieren Sie es jetzt mit dem deutschen Tongpunt-r aus. In Berlin spielen die perfekt artikulierten Schauspieler ein Heimspiel.
Bei dieser Aufführung ist alles in Ordnung, aber das hat nichts zu bedeuten. Das ist äußerst kohärenter und großartig ausgeführter Unsinn. Dadurch ist diese Ausgabe des Theatertreffens bisher eher schwarz-weiß. Es besteht die Hoffnung, dass Designer wie Johan Simons, Katie Mitchell und Jérôme Bel dem Festival später weitere Nuancen hinzufügen.
50. Theatertreffen. Diverse Auftritte an Orten in Berlin. Inl: Berlinerfestspiele.de
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