„Die Probleme zwischen Frankreich und Deutschland stellen keine „Krise“ dar. Sie können Lösungen für eine Krise finden. Die derzeit bestehenden Probleme zwischen den beiden Ländern sind nicht mehr so einfach zu lösen. Es geht tiefer. Franzosen und Deutsche verstehen sich immer weniger. Es ist eine Trennung, eine Trennung.
Französische Verärgerung über die Alleinreise von Bundeskanzler Scholz nach China, Wut darüber, dass Deutschland amerikanische statt französische Kampfflugzeuge kauft, Präsident Macron, der plötzlich ein reguläres Treffen französischer und deutscher Minister absagt – der Historiker Georges-Henri Soutou, einer der bedeutendsten Spezialisten für Deutsch-Französisch Beziehungen in Frankreich betrachten dies alles mit Bestürzung. Und die Collageversuche dieser Woche – Ministerin Baerbock war zu Besuch in Paris, Ministerpräsident Borne in Berlin und das wird es vielleicht auch geben ein deutsch-französisches Gipfeltreffen im Januar – ihn nur mäßig überzeugen.
Bereits 1996, als er noch Professor an der Sorbonne war, schrieb Soutou in seinem Buch die Unsichere Allianz dass Deutschland für Frankreich „zu groß geworden“ sei. Deutschland ist wirtschaftlich immer stärker geworden. Laut Soutou destabilisierte dies die Europäische Union, die in den 1950er Jahren gegründet wurde, um sicherzustellen, dass Deutschland den Kontinent nie wieder dominieren würde.
Soutou forderte Frankreich zu Reformen auf, damit es mit Deutschland Schritt halten könne. Andernfalls würde nicht nur das empfindliche deutsch-französische Gleichgewicht gestört, sondern auch die EU, die auf dem deutsch-französischen Gleichgewicht basiert, würde aus dem Gleichgewicht geraten. Heute, 25 Jahre später, „passiert genau das.“
Was passiert dann?
„Die Welt verändert sich aufgrund des Krieges in der Ukraine und anderer geopolitischer Entwicklungen. Europa steht vor einem ernsten Sicherheitsproblem und muss darauf reagieren. Wie immer bieten Frankreich und Deutschland unterschiedliche Lösungen an. In der Vergangenheit wurde über einen gemeinsamen europäischen Ansatz diskutiert und Kompromisse geschlossen. Dieser Reflex ist inzwischen verschwunden. Es gibt wenig gegenseitiges Verständnis. Sie halten sich kaum auf dem Laufenden.
„Die intellektuelle Neugier darauf, was andere motiviert, nimmt ab. Das ist tiefgreifend. Natürlich gibt es mildernde Umstände. Die deutsche Regierung ist neu. Nach Jahren der CDU/CSU-Regierung in Berlin versuche ich immer noch, Kontakte zu den Grünen, den Sozialdemokraten und der FDP zu knüpfen. Die drei Parteien der Koalition haben Schwierigkeiten, sich gegenseitig zu verstehen. Es macht Sinn, dass in Paris manchmal alles gut läuft. Kanzlerin Merkel hatte zuerst Schwierigkeiten mit Präsident Sarkozy, mit Hollande, mit Macron. Aller Anfang ist schwer. Aber jetzt ist es schwieriger als zuvor.
Ist die wirtschaftliche Rückständigkeit Frankreichs der einzige Grund?
„Nein. Wirtschaft, Außenpolitik und Sicherheit sind in den Beziehungen beider Länder eng miteinander verflochten. Deutschland ist das mit Abstand größte Industrieland Europas. Italien liegt an zweiter Stelle. Wer Norditalien durchquert, sieht Fabriken erst mehrere hundert Kilometer entfernt.“ lang.
„Frankreich liegt nur auf dem dritten Platz. Frankreich dedustrialisiert sich rasant. Französische Unternehmen haben schöne europäische Hauptsitze, aber die Produktion findet oft im Ausland statt. Es ist kaum in der Lage, seine Kernkraftwerke zu warten und zu reparieren. Die Hälfte ist inzwischen außer Gefecht. Die Energiekosten in Frankreich sind daher sehr hoch. Die Exporte sind rückläufig. Das französische Haushaltsdefizit steigt rapide an. Wenn wir den Euro nicht hätten, müssten wir ihn abwerten.
„Deutschland reagiert darauf. Scholz‘ Entscheidung, mit deutschen CEOs nach China zu reisen, kann kritisiert werden. Aber hätte er nicht gehen sollen? Europa hat einen hohen wirtschaftlichen Preis gezahlt. Das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.
Präsident Macron wollte kommen.
„Ja. Scholz ist kein guter Kommunikator. Er hätte besser beraten sollen. Aber der Vorwurf, er hätte nicht gehen sollen, ist absurd.“
Betrachtet Berlin Paris als wirtschaftliches Hindernis?
„Berlin interessiert sich kaum für Frankreich. Die Mehrheit der Franzosen beschwert sich. Über die Reise nach China. Zum deutschen Handel mit Russland in den letzten Jahren, der „naiv“ sei. Aber alle trieben viel Handel mit Russland, nicht nur mit Deutschland. Wir sind vielleicht auf Deutschland gestoßen, aber wir waren alle naiv.“
Deutschland ist der Wirtschaftsmotor Europas. Frankreich „kompensierte“ dies durch eine führende Rolle in der Außenpolitik. Ist dieser Austausch bedroht?
„Diese Aufgabenverteilung hat den wirtschaftlichen Nachteil Frankreichs etwas verdeckt. Deutschland zog einen Karren, Frankreich den anderen. Doch der Krieg in der Ukraine stört diese Situation. Deutschland hat mit seiner vernachlässigten Armee ein großes Sicherheitsproblem. Frankreich versteht das nicht. Heute haben die Deutschen das Gefühl, sie müssten zwei Karren ziehen. In seiner Rede in Prag im August sagte Scholz, Deutschland wolle massiv in die Luftverteidigung ganz Mitteleuropas investieren. Frankreich ist nicht eingeladen. Das sehen die Franzosen: Deutschland will plötzlich eine Rolle in der europäischen Verteidigung spielen. Sie nehmen das sehr ernst.
Weil nach 1945 jede militärische Rolle für Deutschland unangenehm war?
„Ja. Frankreich empfand das auch als unangenehm. Verteidigung ist ein politisches Minenfeld in Europa. Das geht alle an. Paris hat die europäische Einigung immer als Mittel betrachtet, Deutschland zu kapseln, insbesondere militärisch. Nach dem Krieg war Deutschland froh, dass Frankreich die Führung übernahm.“ Verteidigung. Aber heute ist es Krieg auf dem Kontinent. Wer beschützt uns? Nicht Frankreich, sondern die NATO. Es geht um eine grundlegende Änderung der Beschäftigungsverhältnisse. Und das kommt zum französischen Versagen in Mali und anderen afrikanischen Ländern hinzu.
Mit anderen Worten: Deutschland ist nicht nur wirtschaftlich führend, sondern auch in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung?
„‚Führung‘ ist vielleicht ein starkes Wort. Aber Deutschland ergreift Initiativen und das ist neu. Initiativen, die Paris nervös machen. Deutschland bestellt amerikanische Kampfflugzeuge, nicht französische. Sie stärkt hastig die transatlantischen Beziehungen, weil sie plötzlich entscheidend für die Sicherheit Europas erscheinen. Frankreich fällt das schwer. Wenn man dazu noch die finanziellen und wirtschaftlichen Rückschläge hinzufügt, versteht man, wie tief der Schmerz in Paris ist.
„Die Europäische Zentralbank erhöht die Zinsen und kauft weniger Staatsanleihen. Frankreich ist mit seiner hohen Staatsverschuldung stärker betroffen als Deutschland. Deutsche Unternehmen und Haushalte erhalten 200 Milliarden Euro zur Bewältigung der Energiekrise. In Frankreich ist der Hilfsplan deutlich kleiner. Paris hat nicht viel Geld. Kurz gesagt, die Kluft zwischen den beiden Ländern vergrößert sich in verschiedenen Bereichen. Die Leute reden nicht mehr, sie tauschen meistens Vorwürfe aus.“
Gibt es eine Parallele in der Geschichte?
„Ich habe viele deutsch-französische Höhen und Tiefen erlebt. Aber was jetzt passiert, ist alles. Die Wiedervereinigung beider Deutschlands nach dem Mauerfall 1989 unter der Führung von Bundeskanzler Kohl war ein grundsätzlicher Tiefpunkt. Ich erinnere mich an eine hochrangige Debatte mit Franzosen und Deutschen, bei der es zu Geschrei kam.
„Aber Präsident Mitterrand hat schnell verstanden, dass es keinen Sinn hatte, sich zu beschweren, denn die Wiedervereinigung würde sowieso stattfinden. Also tat er, was die Franzosen immer tun, wenn Deutschland zu groß wird: das europäische Gefüge stärken. So haben wir den Euro schneller bekommen. Immer wenn es Streit zwischen Paris und Berlin gibt, ist mehr Europa die Lösung.“
Wird das noch einmal passieren?
„Sehen Sie eine andere Lösung? Ich glaube, die Briten haben es kommen sehen und sind früh abgereist.
Welchen Bereich sollten wir berücksichtigen?
„Abschaffung des Vetorechts zur Stärkung der europäischen Entscheidungsfindung, einer echten europäischen Energieunion oder einer neuen europäischen Erweiterungspolitik.“ Ich glaube auch, dass wir dringend einen europäischen Geheimdienst brauchen. Alle Informationen, die wir über die Ukraine erhalten, stammen von Amerikanern und Briten. Ich lese jeden Morgen britische Bücher Statusberichte über den Krieg. Warum haben wir es nicht selbst?
„Manche sehen in Macrons europäischer strategischer Autonomie und europäischen Verteidigungsprojekten einen Weg zu einem deutsch-französischen Sprung nach vorne. Aber ich denke immer an Annegret Kramp-Karrenbauer, Verteidigungsministerin unter Angela Merkel, die Anfang 2021 vor dem Ifri-Thinktank in Paris über dieses Vorhaben sprach, Europa eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu geben. Ich war dort. Frau Kramp sagte auf Französisch: „Wir sind uns alle einig, dass Europa strategisch autonom werden muss.“ Allerdings sind wir unterschiedlicher Meinung darüber, was genau „autonom“ bedeutet.“ Jetzt sehen wir, wie groß dieser Unterschied ist. Für die Deutschen läuft das über die NATO. Sicherlich nicht für die Franzosen.
Alle konzentrieren sich jetzt auf die deutsch-französische Achse als „Kern“ der EU. Aber wie wichtig ist diese Asche?
„Diese Frage stelle ich mir immer häufiger. Die Beziehungen in Europa entwickeln sich rasant. Ich bin davon überzeugt, dass die Grundlage der europäischen Integration weiterhin darin besteht, dass Deutschland nicht zu mächtig wird. Einerseits ist die EU ein Erfolg: Wir sind sehr wohlhabend und seit ihrer Gründung hat es in der EU noch nie einen Krieg gegeben. Doch für Deutschland ist die EU gescheitert: Das Land wird immer mächtiger. Das hat man während der Eurokrise gesehen. Jetzt sieht man es wieder.
„Bisher war Frankreich das Gegengewicht. Aber Frankreich marginalisiert sich. Es ist schwieriger zu regieren als Italien. Deutschlands große Angst ist, dass Frankreich ein neues Griechenland wird und eine Eurokrise auslöst. Wenn wir nicht aufpassen, wird Frankreich das Korbetui von Europa. Aber dann müssen andere EU-Länder oder Ländergruppen ein Gegengewicht zu Deutschland bilden.“
Was? Oder kommt es auf das Thema an?
„Ja. Und gegenseitige Vereinbarungen. Die Benelux-Staaten waren einst sehr einflussreich: drei kleine Länder unter drei großen. 1957 wurde vereinbart, dass die kleinen Länder nichts blockieren und die großen ihrerseits nichts durchsetzen konnten. „Eigentlich braucht man so etwas noch. Hoffentlich bekommen wir einen guten Neustart in Europa.“
Lesen Sie auch
dieses Profil der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel
Lese liste
„Twitter-Praktizierender. Bier-Evangelist. Freiberuflicher Gamer. Introvertiert. Bacon-Liebhaber. Webaholic.“