(Neu, inkl. Informationen zum Streikrecht in Frankreich)
BERLIN (dpa-AFX) – Im Vorfeld des großen Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr in Deutschland werfen deutsche Arbeitgeber den Gewerkschaften überzogenes Handeln vor. „Wer das tut, handelt unverhältnismäßig und untergräbt die Akzeptanz des Streikrechts“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Der Chef der Eisenbahnergewerkschaft EVG, Martin Burkert, verteidigte den gemeinsamen Warnstreik mit Verdi und betonte die Verantwortung für das Streikrecht: „Nein, wir übertreiben nicht“, sagte Burkert am Freitag.
Der Verkehr wird am Montag komplett lahmgelegt. Der beispiellose Warnstreik betrifft den Fern-, Regional- und S-Bahnverkehr, den öffentlichen Nahverkehr, viele deutsche Flughäfen, Wasserstraßen und Häfen sowie Autobahnen. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und Verdi kämpfen in verschiedenen Tarifverhandlungen um mehr Einnahmen.
Spediteure und Einzelhändler fordern bereits mehr Flexibilität für Wochenendtransporte. HDE-Fachverbandsgeschäftsführer Stefan Genth sagte: „Im Vergleich zur teilweise dramatischen Lage zu Beginn der Pandemie sind die Folgen des bevorstehenden Streiks eine überschaubare Herausforderung.“ Dennoch wäre es konsequent, das Sonntagsfahrverbot für dieses Wochenende aufzuheben und der Logistik das Vorziehen bestimmter Transporte zu erlauben. Die Logistikbranche warnte vor einem „Versorgungschaos“ und forderte in „Bild“ zudem eine Aufhebung des Lkw-Verkehrsverbots am Sonntag.
Barig Airlines bezeichnete die Gewerkschaftsaktion als „unverantwortlich“. Lufthansa-Passagiere sollten bereits am Sonntag mit den erheblichen Ausfällen rechnen. Am Flughafen München finden an diesem Tag – mit Ausnahme humanitärer Flüge – keine Lufthansa-Flüge statt, wie die Airline mitteilte. Auch Deutschlands größter Flughafen Frankfurt ist am Montag geschlossen.
Die Präsidentin der Bundesvereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, Karin Welge, forderte die Gewerkschaften auf, konstruktive Signale für die am Montag beginnende dritte Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Kommunen und Bund zu setzen – neben dem Tarifverhandlungen bei den Bahnen, die entscheidende Kulisse für Warnstreiks. „Die Gewerkschaften müssen aufpassen, dass sie es nicht übertreiben“, sagte Welge.
Kampeter warnte, der Kampf um die Mitgliedschaft dürfe die Tarifautonomie in Deutschland nicht radikalisieren. „Ein Blick nach Frankreich zeigt, wohin es führt, wenn man aus der Bahn gerät.“ In Frankreich kommt es relativ häufig zu Streiks – zuletzt besonders heftig gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron.
Der EVG-Chef sagte zum Streikrecht: „Das ist ein scharfes Schwert, mit dem wir auch sehr verantwortungsvoll umgehen.“ Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in Deutschland wenige Streiktage. In Frankreich seien das politische Streiks mit politischen Forderungen, die es in Deutschland nicht gebe, sagte der Chef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) dem Deutschlandfunk. Der Tarifstreit zwischen EVG und Verdi betraf Lohnforderungen und Tarifverträge. Zum gemeinsamen Warnstreik mit Verdi nannte Burkert es „sicherlich historisch, dass wir den Schwung haben, während wir in schwierigen Tarifverhandlungen stecken“.
In Deutschland ist das gewerkschaftliche Gründungsrecht im Grundgesetz verankert, das auch gewerkschaftliches Handeln besonders schützt. Streiks haben in Frankreich einen anderen Stellenwert als in Deutschland und sind häufiger. Das Streikrecht ist liberaler: Streiks finden nicht nur im Rahmen von Tarifverhandlungen statt und beziehen sich oft auf politische Ziele. Anders als in Deutschland gibt es zudem viele sehr politisch orientierte Gewerkschaften, die um Einfluss konkurrieren und zunehmend auf die Macht der Straße setzen.
Die hohe Beteiligung an Streiks und Demonstrationen sowie die etwas militantere Haltung in Frankreich sind auch darauf zurückzuführen, dass das Land seit Jahrhunderten erlebt, dass soziale Bewegungen erfolgreich sein können. Konflikte wirken sich stärker auf den politischen Diskurs und auch auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus.
Das Besondere an dem von EVG und Verdi geplanten Warnstreiktag ist, dass er sich mit den Verhandlungen überschneidet – nämlich mit der in Potsdam beginnenden dritten Runde für die 2,5 Millionen Bundes- und Kommunalbediensteten. Das Verfahren sei aber rechtlich möglich, sagte Thorsten Schulten vom gewerkschaftsnahen WSI-Institut der Hans-Böckler-Stiftung gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.
Der Friedensbund endete mit dem Auslaufen des bisherigen Tarifvertrages. Einem Vollstreik steht laut Schulten nichts im Wege, auch nicht die Überschneidung zweier Tarifbereiche. Die Bosse sehen in dem großangelegten Streik jedenfalls die gesetzlichen Grenzen ausgereizt.
Kampeter kritisierte: „Große Streiks, die ein Land lahmlegen sollen, sind keine Warnstreiks.“ Markus Jerger, Vorsitzender des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW), sagte: „Wirtschaft und Öffentlichkeit dürfen in der aktuellen Wirtschaftslage nicht zu Geiseln unangemessener Forderungen werden.“
Der öffentliche Nahverkehr wird nach dem flächendeckenden Warnstreik vom Montag voraussichtlich fast überall zum Erliegen kommen. Die Bahn stoppt den gesamten Fernverkehr. Auch im Regionalverkehr werde es „weitgehend keine Züge“ geben. Viele Flughäfen sind betroffen, etwa Frankfurt und München. Der Regionalverkehr wird in sieben Bundesstaaten eingestellt. Streiks sind auch an großen Flüssen geplant./bw/hrz/maa/rbo/mar/hme/sl/DP/mis
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