„Die Deutschen erkennen, dass dieser Krieg ganz anderer Natur ist als die Konflikte, die Europa in seinem Umfeld nach dem Mauerfall erlebt hat“, schreibt Dirk Rochtus nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine und seinen Folgen für Europa. „Es gibt jetzt eine Selbstkritik“ohne nachzudenken‚mit der deutschen politischen Klasse.‘
„Wir wurden kaltblütig belogen“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Donnerstagabend in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender ZDF. Der grüne Politiker drückte wie kein anderer die Bestürzung aus, die der russische Einmarsch in die Ukraine innerhalb der deutschen politischen Klasse auslöste. Das Establishment konnte sich bis zuletzt nicht vorstellen, dass der Marschbefehl des russischen Präsidenten am Donnerstagmorgen die Friedensordnung in Europa gefährden würde. War das Minsker Abkommen nicht das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zur Befriedung der Ostukraine? War Diplomatie nicht das Zauberwort, mit dem Berlin eine Deeskalation der angespannten Lage der vergangenen Wochen zu erreichen glaubte?
Schluss mit deutscher Naivität?
„Wer spricht, schießt nicht“, sagte Baerbock kürzlich. Und auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) flog Mitte Februar nach Moskau, um Putin besser zu machen. Die deutsche Regierung weigerte sich unterdessen, Kiews Forderung nach Verteidigungswaffen Folge zu leisten. Keine Waffenlieferungen in Kriegs- oder Krisengebiete, seine Haltung war sich der Lehren der deutschen Geschichte bewusst. Als Robert Habeck, der derzeitige Bundesminister für Wirtschaft und Klima, bei einem Besuch in der Ukraine im vergangenen Sommer vorschlug, dem Land solche Waffen nicht vorzuenthalten, wurde er von seinem Kollegen von der Baerbock-Partei, dem damaligen Co-Vorsitzenden der Partei, zurückgezischt Grüne.
Machtspiele
Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die Deutschen – das Establishment und die „Durchschnittsbürger“ – von dieser Vernunft überzeugt, die so deutsch istEinfallsreichtum“, würden die internationalen Beziehungen dominieren. Im Zeitalter der fortschreitenden Globalisierung sollte es keinen Platz mehr für die alten geopolitischen Machtspiele von Staaten und Regierungen geben.
Altkanzler Willy Brandt (SPD) glaubte an ‚Gehen Sie um die Annaherung herum‚ (Wechsel durch Annäherung), um die West-Ost-Beziehungen aufzutauen und die Ostblockstaaten zu demokratisieren. Seine entfernten Nachfolger, Gerhard Schröder und Angela Merkel, setzen auf ‚Gehen Sie durch den Handel‚, Russlands Übergang in der postsowjetischen Ära zu mehr Demokratie durch und gefördert durch Handelsbeziehungen. Umgekehrt hat sich Deutschland auch bei Gaslieferungen und Investitionen in Russland von Moskau abhängig gemacht.
Der Schock der Invasion ist so heftig, dass sogar eine Zeitung gefällt Die Welt zögert nicht, eine Parallele zu Hitlers Überfall auf Polen im September 1939 zu ziehen. Das sind die Art von historischen Parallelen, mit denen man in Deutschland sehr vorsichtig sein muss. Aber es zeigt, dass den Deutschen bewusst ist, dass dieser Krieg ganz anderer Natur ist als die Konflikte, die Europa nach dem Mauerfall in seinem Umfeld erlebt hat. Dieser Krieg entfacht nicht nur ein globales Feuer, sondern bedroht auch das auf Freiheit und Demokratie basierende europäische Wertesystem.
Hoher Preis
Eine Selbstkritikohne nachzudenkeninnerhalb der deutschen politischen Klasse. Natürlich gibt es immer noch linksextreme Gruppen, die – obwohl sie die russische Aggression verurteilen – der NATO eine Mitverantwortung für den Beginn des Krieges in der Ukraine vorwerfen. Die Gruppe habe jedoch ein Gefühl dafür, „wie wir nicht naiv waren“. Und damit der Wille, den Kurs zu ändern, härter gegen den Autokraten vorzugehen, der die Fenster des Europäischen Hauses eingeschlagen hat, und auch die Konsequenzen zu tragen. Scholz hatte bis vor kurzem gesagt, Putin werde einen hohen Preis zahlen, stellte Baerbock klar, dass wir (in Deutschland, im Westen) bereit sein müssten, diesen wirtschaftlichen Preis im Falle von Sanktionen gegen Russland zu zahlen.
Viele große deutsche Unternehmen sehen ihre Investitionen in Russland bedroht. Die Bundesregierung hat ihre zögerliche Haltung gegenüber der Gaspipeline Nord Stream 2 aufgegeben: Die Genehmigung ist ausgesetzt, auf absehbare Zeit wird kein russisches Gas nach Deutschland gelangen. Die Finanzierung der Energiewende, wie von der Scholz-Regierung vorgesehen, wird dadurch nicht erleichtert. Sicherlich, weil einige jetzt fordern, dass mehr Geld in die Verteidigung fließt, zum einen Bundeswehr das „mehr oder weniger exponiert“ ist und nicht ausreichend ausgerüstet ist, um Deutschland zu verteidigen. Annegret Kramp-Karrenbauer, ehemalige CDU-Verteidigungsministerin, zitierte die Altkanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl mit den Worten: „Verhandlungen stehen immer an erster Stelle, aber man muss militärisch so stark sein, dass Nichtverhandlungen für den anderen keine Option sind Lager .be‘.
Deutschland ist vielleicht nicht so geschlossen, wie viele erhofft haben – die Diskussion über den Ausschluss Russlands aus dem internationalen SWIFT-Zahlungssystem dauert noch an –, aber Politik und Medien haben sicherlich begonnen, seine geopolitische Naivität in Frage zu stellen.
Dirk Rochtus lehrt internationale Politik und deutsche Geschichte an der KU Leuven/Antwerp Campus. 2021 erschien sein Buch Sharp Judges of the Mind. German Debate to the Core“ (Ertsberg).
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