Nach einem Vierteljahrhundert ist Ullrich wieder der Kaiser der Tour de France

Warum sollte eine Radsportlegende „besonders betroffen“ sein, weil ihr Bild in einer Zeichnung mit anderen Radsportlegenden abgebildet ist? Trotzdem postet Jan Ullrich stolz auf Instagram das Bild der Seite Switchback Collective, auf dem er mit Eddy Merckx, Bernard Hinault und Sean Kelly hintereinander fährt, alle in den klassischen Shirts ihrer Blütezeit. „Angetan Besonders“, denn anscheinend gehört er noch ein bisschen dazu. Endlich.

Ullrich gewann vor 25 Jahren als erster und einziger Deutscher die Tour de France. Zum Auftakt der Tournee am Freitag in Kopenhagen präsentiert die ARD den Film Ich bin Jan Ullrich† Der britische Radsportjournalist Daniel Friebe hat eine umfangreiche Biographie geschrieben Das Beste, was es je gab (die niederländische Übersetzung erscheint am Donnerstag). Erinnerungen an den DDR-Jungen, der Deutschlands populärster Sportler wurde. Aber auch: die rücksichtslose Art und Weise, wie Ullrich abgesetzt wurde, als bekannt wurde, dass er gedopt hatte. 2018 hätte eine Krise beinahe zu seinem Tod geführt, sagt er. Wie ist es passiert?

30.000 Zuschauer applaudierten dem damals 23-jährigen Ullrich, als er am Tag nach seinem Tour-Sieg 1997 auf dem Bonner Marktplatz geehrt wurde. Sie alle schätzten seine beispiellose Kraftexplosion beim Aufstieg nach Arcalis, seine Überlegenheit im Zeitfahren. Ein ruhiger und bescheidener Junge ist ‚Ulle‘. Und was kann er leiden! Im Keine Zeit Deutschland entdeckt den Sport. In Beliebtheitsumfragen schlägt der Sieger der German Tour große Zeitgenossen wie Rennfahrer Michael Schumacher und die Tennisspieler Boris Becker und Steffi Graf. Er erbt sogar den Spitznamen von Fußballlegende Franz Beckenbauer: des Kaisers

Wer möchte nicht mit dem neuen Idol in Verbindung gebracht werden? Die Deutsche Telekom, später T-Mobile und Sponsor von Ullrichs Team, bot ihm sofort einen Millionenvertrag an, mit dem er zum bestbezahlten Radsportler der Welt wurde. Adidas beteiligt sich mit einer halben Million Euro pro Jahr. Tag Heuer, Nestlé und Audi betreten die Szene. Und, pikant, der öffentlich-rechtliche Sender ARD kauft Exklusivität rund um das Telekom-Radsportteam für zwei Tonnen im Jahr. In der Biografie verrät Friebe, dass zwischen der ARD und Ullrich selbst später eine umstrittene Nebenabrede getroffen wird, die jährlich 195.000 Euro wert ist.

hervorstehendes Foto

glorreicher TagDer Kaiser als Herzstück in Fotos mit den Großen der Erde. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Telekom-Chef Ron Sommer und Rocksänger Udo Lindenberg drängeln sich neben einem strahlenden Ullrich, um im Deutschen Pavillon auf der Expo Hannover Werbung zu machen. Das auffälligste Foto ist dann das der Frankfurter Allgemeine, van Ullrich im Tandem mit Rudolf Scharping, dem Vorsitzenden der SPD und späteren Verteidigungsminister. Es gibt keinen besseren Freund von Ullrich und Team Telekom als Scharping. Ein ideales Sprungbrett für den Politiker, um Präsident des Deutschen Radsport-Verbandes BDR zu werden.

Wer hätte das von einem Jungen aus Rostock in der DDR gedacht, der sicher keine Traumkindheit hatte? im Monatsmagazin Sport International hatte zuvor 1997 mit seinem Trainer Peter Becker über diese Reise gesprochen. Wie Ullrich ohne Vater aufwuchs, ein zügelloser Alkoholiker, der die Familie früh verließ. Mit seinem Bruder Stefan geht er laufen, Rad fahren. Er ist der Beste, sieht sein erster Trainer Peter Sager. Ausgewählt für die Kinder- und Jungendsportschule Werner Seelenbinder in Ostberlin. Wieder der Beste, mittlerweile in der gesamten DDR, wo der Sport hoch angesehen ist.

Dopingsystem? „Nicht bei uns“, sagt Becker. Das Geheimnis liegt seiner Meinung nach viel mehr in der Regelmäßigkeit und Vielseitigkeit des Trainings: Leichtathletik, Schwimmen und nach und nach mehr Größe auf dem Rad. Es zeigt handschriftliche Notizen für alle Trainingskilometer: von 9.800 im ersten Jahr bis zu 30.000 kurz vor dem Sieg bei der Tour 1997. „Das ist noch lange nicht sein Maximum“, mahnte Becker. „Wenn er größer wird, muss er mehr tun.“

Disziplin scheint nicht die größte Stärke von Deutschlands Radsport-Star zu sein. Nach seinem Sieg bei der Tour kämpft er jeden Winter gegen sein Übergewicht. Eine Knieverletzung verhindert regelmäßiges Training. 1999 kriselt es nach Dopingvorwürfen, drei Jahre später muss er die Telekom nach positivem Ecstasy-Dopingtest verlassen. Aber gerade in solchen Zeiten ist das so Januar Belastbarkeit und Klasse. 1999 gewann er bei seiner Rückkehr die Vuelta und die Weltmeisterschaft im Zeitfahren. 2003 glänzt er in der himmlisch von Bianchi, um dann für mehrere Millionen im Magenta von T-Mobile zurückzukehren. Seine Liste der endgültigen Tour-Klassifizierungen von 1996 bis 2005 sagt alles: 2-1-2-x-2-2-2-4-3.

Dies sind die Jahre des Phänomens Lance Armstrong, sieben Mal hintereinander in Paris. Doch der Amerikaner bricht zusammen und hat Tränen in den Augen, als er der Biografin Friebe von jenem Abend nach seinem letzten Tour-Sieg 2005 erzählt. Wie sein „Lieblingsfeind“ Ullrich plötzlich im Hotel Ritz auftaucht, wo hunderte Amerikaner feiern. Alle schweigen, als der Deutsche Armstrong in gebrochenem Englisch anspricht. „Die Tour sieben Mal zu gewinnen ist unglaublich, also Hut ab. Ich habe alles getan, was ich konnte, aber du warst zu stark für mich. Armstrong ist ein so großer Verlierer, dass er immer noch emotional ist. Besonders nachdem alles, was passiert ist, vergangen ist.

Blutdoping-Skandal

Doping hat alles zerstört. Kurz vor der Tour 2006 war klar, dass Ullrich nicht starten darf, weil er in einen spanischen Blutdopingskandal verwickelt war. Friebe nennt ihn „eine Bombe, die hochgegangen ist und die letzten Reste seiner Karriere, viel von seiner Identität und so ziemlich den ganzen Sport in Deutschland ausgelöscht hat“. Nach den Doping-Enthüllungen von Ullrich und T-Mobile-Teamkollegen weiß nicht jeder Freund von 1997, wie schnell er den Radsport in die Finger bekommen muss. T-Mobile stellt das Sponsoring ein, die ARD überträgt die Tour nicht mehr live. Galionsfigur Ullrich wird am härtesten getroffen.

Die Biografie stellt nach, wie unbeholfen das ehemalige Idol nach und nach ihren Drogenkonsum gesteht. Deutschland will es nicht. Nach Ullrichs Euphorie ist es nun Zeit für Ullrichs Einschätzung. Biografin Friebe vermutet Abweichungsbewältigung, müssen sich die Deutschen wie nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung mit der Vergangenheit befassen. Ullrichs Sünden symbolisierten den verkommenen Radsport. Von dir abbrechenDer Sport konnte weitergehen.

Auch wenn längst klar ist, wie weit verbreitet der Drogenkonsum war und viele seiner Zeitgenossen zum Sport zurückgekehrt sind, bleibt die Tür für Ullrich verschlossen. Beim Start der Tour in Düsseldorf 2017 steht er ganz anonym auf der Strecke im Örtchen Korschenbroich, nicht gern gesehen in den VIP-Lounges des Deutschen Radsport-Verbandes. Während Scharping noch Präsident ist, sein Tandem-Partner seiner Blütezeit. „Alle, die Damen davon profitiert, ist jetzt vorne in Düsseldorf“, höhnt Trainer Becker NRC

So verwandelt sich ein Athlet in ein menschliches Drama, wie das Blatt Die Zeit Schreiben. Aus seiner Heimatstadt Mallorca, Spanien, kommen Berichte über Alkohol- und Drogensucht. Festgenommen nach einem Einbruch in das Haus eines Nachbarn. Beziehungsprobleme, schlechte Freunde. Und als Ullrich nach Frankfurt aufbricht, um sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln zu lassen, überfällt er in einem Hotelzimmer eine Prostituierte. „Mir ging es sehr schlecht“, sagt Ullrich in der ARD-Doku. „Ich war fast so weit wie Marco Pantani, fast tot.“

Es ist Armstrong, der sich 2018 um seinen einstigen Rivalen kümmert. „Ich kann nichts Schlechtes über Jan sagen“, sagte der 51-jährige US-Amerikaner der Biografin Friebe. Die beiden radeln gemeinsam, Armstrong besucht Ullrich regelmäßig. Auch wenn im Dezember 2021 wieder alles schief zu gehen droht und Ullrich mit einer schweren Blutvergiftung in ein mexikanisches Krankenhaus eingeliefert wird. „Ich habe einen Mann gesehen, aber keinen Mann“, sagte Armstrong der ARD. „Er wurde bewusstlos an sein Bett gefesselt, das war das Schlimmste.“

Wieder taucht Ullrich auf. Im April sammelte er mit einer Versteigerung seines alten gelben Pinarello-Fahrrads 40.000 Euro für ukrainische Kinder. Dass er nach dem Sieg bei der Tour wieder 25 ist, tut Ullrich gut. „Jan ist jetzt stabil und sieht gut aus, aber er ist weit davon entfernt“, schließt Armstrong.

Adelhard Simon

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